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Mark

Nüchternheit ist Rebellion




Essay
Tagesspiegel

lesen im Tagesspiegel ︎︎︎

Ein paar Mal im Jahr veröffentlicht eine große Zeitung einen Text über Alkoholkonsum, der von einer Trinkpause handelt. Es ist immer der gleiche Text, er geht immer ungefähr so:

Ein:e Autor:in trinkt für ein paar Wochen oder Monate keinen Alkohol, findet das interessant, komisch oder sogar ein bisschen gut – immer aus den gleichen langweiligen, vorhersehbaren Gründen: besserer Schlaf, bessere Haut, bessere Selbstkontrolle – aber unterm Strich ist kein Alkohol eben auch keine Lösung (höhö). Und außerdem ist es ohne Drink so schwer, sich zu entspannen.

Und weil die unvermeidliche Rückkehr zum routinierten Drogenkonsum zwangsläufig eine Art inneren Rechtfertigungszwang auslöst und weil modernen, akademischen Kulturmenschen das Argument der Konservativen, Trinken sei Tradition, nicht zur Verfügung steht, muss ein anderes, stylishes Framing her: »Trinken ist Rebellion.«

Gegen die Leistungsgesellschaft. Gegen neoliberale Selbstoptimierte. Gegen das kapitalistische Hamsterrad. Gegen die Diktatur der Vernunft. Ja, sogar gegen Elon Musk himself! Wer Christian Lindner eins auswischen will, trinkt Bier. Linker Aktivismus quasi.

Die VICE fasst es so zusammen: »Wer säuft, kann nicht arbeiten. Wer säuft, kann sich nicht selbstoptimieren. Wer säuft, tut einfach nur das, was ihm Spaß macht, was ihn Mensch sein lässt. Ohne Rücksicht auf den Kapitalismus und dessen Zwänge.«

Gero von Randow von der ZEIT ist eher Team Tweed Sakko findet die Abstinenz »tragisch«. Allein der Wein und dessen subversive Kraft vermöge ein menschenfeindliches System auszuhebeln, schreibt er, weil der Suff »den Menschen immer wieder am Käfig der Vernunft rütteln« lasse. Sein Kollege Jakob Pontius schrieb während des Corona-Lockdowns sogar, der Drink sei unsere »letzte Freiheit« und warb eindringlich für etwas geheimnisvolles, das er den »kontrollierten Kontrollverlust« nannte.

Und auch Silvia Silko beim Tagesspiegel glaubt an das »anarchische Potenzial des Weißweins«. Sie schreibt, trinken sei »der gereckte Mittelfinger an die Elon Musks und Christian Lindners dieser Welt!«

Sorry, aber Trinken ist definitiv keine Rebellion


Auch ich habe zu meinen Trinkzeiten dieses Narrativ gerne für mich in Anspruch genommen. Ich habe mir zwar nicht eingeredet, dass Christian Lindner sauer ist, wenn ich Bier trinke. Aber ich war wild, ich war punk, ich war super feminist und super promisk und super antikapitalist. Ich fand die Gleichung Trinken = Rebellion trotz offensichtlicher Schwächen überzeugend, denn sie verlieh meiner Liebe zum Drink einen romantischen Glanz.

Wäre ich an einer ehrlichen Auseinandersetzung mit meinem Trinken interessiert gewesen, hätte ich diese fadenscheinige Geschichte sogar noch nach fünf Tequila Shots problemlos dekonstruieren können.

Rebellion wird definiert als der offene Aufstand einer kleineren Gruppe gegen ein größeres, etabliertes Machtsystem. Und man muss wirklich bloß mal einen halben Abend lang das Haus verlassen, um zu sehen, wie das Mehrheitsverhältnis in puncto Alkohol hierzulande aussieht.

Alkohol ist der Inbegriff von Mainstream. Es gibt so gut wie keinen Anlass, bei dem wir nicht zum Trinken aufgefordert werden. Auf jedem denkbaren Event fließt Alkohol. Bei der Kommunion, auf dem Abiball, im Büro, beim Sport und im SPA: In Deutschland gibt es kaum eine soziale Gruppe, Subkultur oder Gesellschaftsschicht, in der Alkoholkonsum eine subversive Kraft hätte oder auch nur auffallen würde. Aber finde mal jemanden, der nicht trinkt.

Die weite Verbreitung und die hohe gesellschaftliche Akzeptanz haben einen hoch diversifizierten Markt hervorgebracht: Egal, woher du kommst, wen du wählst, was du anhast, es gibt garantiert den passenden Drink für dich. Ob du zur Eppendorfer Grauburgunder-Schickeria gehörst oder zum Team Sterni vorm Späti, ob du im Schumann’s einen 23 Euro Manhattan trinkst, Champagner auf Ibiza oder ein Maß Bier in München Schwabing – die Industrie hat garantiert das richtige Angebot für dich. Deine Rebellion hält einen ganzen Wirtschaftszweig am Leben. 

Diesen Lifestyle lässt Deutschland sich einiges kosten, auch finanziell: 57 Milliarden Euro betrug 2022 die Summe der alkoholbedingten Schäden durch Krankheit, Unfälle und Frühberentung. Alkohol ist unterdessen so billig, dass die lächerlichen zwei Milliarden, die durch Steuereinnahmen wieder reinkommen, nicht mal annähernd die Kosten der Kollateralschäden decken. Wer das bezahlt, sind nicht die Konzerne, sondern das Gesundheitssystem. Saufen ist also weniger Rebellion gegen die Leistungsgesellschaft als vielmehr gegen die Solidargemeinschaft.

Man kann die These Alkohol = Rebellion also ohne viel Aufwand entkräften. Aber das Enervierende an diesen Texten ist gar nicht so sehr die Fadenscheinigkeit der Argumente oder die tausendste Reproduktion einer kollektiven Alkoholverharmlosung. 

Das wirklich Ärgerliche ist, dass diese Texte nie von Leuten geschrieben werden, die wirklich etwas von Nüchternheit verstehen. Sondern immer nur von trinkenden Normalos, die sich nicht trauen, aufzuhören, weil sie keine Idee haben, wie sie sich ohne Sprit entspannen sollen. Diese Leute kriegen ohne Ende Air Time, um ihre spaßbefreiten Trinkpausen zu schildern, die sie nur machen, um sich zu versichern, dass ihr Konsum unter Kontrolle ist (alter Suchti-Trick!) und so ihr Trinken vor sich selbst zu legitimieren.

Und am Ende stehen dann immer diese Texte, die keinerlei echte Einsicht bieten, sondern bloß bestätigen, was man ohnehin schon fürchtet – nämlich, dass ein Leben ohne Alkohol kein lebenswertes Leben ist. Das ist frustrierend, denn diese Leute haben von echter Nüchternheit leider null Ahnung.

Also schauen wir uns doch zur Abwechslung mal an, was im Camp der Abstinenzler:innen wirklich los ist, shall we?

Was Nüchternheit wirklich bedeutet


Ich gehöre ja nun schon seit fast 6 Jahren zu ihnen. Zu den bis in die Haarspitzen durchoptimierten, neoliberalen Leistungsmaschinen. Ich bin ein »Sklave des ewigen Fortschritts«, wie Silvia Silko sie nennt. (Ich habe fairerweise nicht aus Lifestyle-Gründen aufgehört, sondern weil ich eine richtige Alkibraut war, aber egal, mein Stoff war ja der gleiche wie eurer.)

Erstmal good News an alle die sich vor der totalen Selbstoptimierung fürchten: Klar im Kopf sein steigert nicht zwingend die Produktivität, die Vernunft oder das Einkommen. Ohne Drink kann man immer noch mit vollen Händen seine Zeit zum Fenster rauswerfen und sehr, sehr unvernünftig sein. Man kann immer noch ungesunden, gefährlichen Hobbies nachgehen (ohne Helm Fahrrad fahren, wochenlang nur Junkfood essen, konsequent nicht zum Yoga gehen, fragwürdige Leute knallen, peinliche Textnachrichten schicken, Kommentarspalten lesen) Man kann immer noch richtig miese Entscheidungen treffen. Stolz kann ich sagen: Ich habe all das auch ohne Gin geschafft.

Es stimmt schon, dass man nüchtern mehr Zeit und Energie zur Verfügung hat – potenziell also deutlich produktiver sein könnte – würde man bloß nicht andauernd von all den nervigen Gefühlen abgelenkt, die man jetzt auf einmal ständig fühlt.

Oh, da ist plötzlich so viel in dir los. Freude, Stress, Wut, Melancholie, Langeweile, Sehnsucht, Zweifel, Ungeduld. Du fühlst dein eigenes Leben, ungefiltert, 24/7. Und das hat Konsequenzen für deine Arbeit.

Ist dein Job eine Zumutung, kannst du ihn dir nicht schön saufen. Hast du einen Boss, der dich triezt, kannst du nicht beleidigt trotztrinken. Empfindest du deine Tätigkeit als sinnentleert, kannst du dich nicht auf das intellektuelle Niveau deiner Team Meetings runter tütern. Sind deine Kolleginnen allesamt fiese Bitches, kannst du dich nicht mit Rosé vollknallen, um nicht enden wollende Team Events mit diesen Ziegen durchzustehen.

Trinken bietet die Möglichkeit, schnell und einfach aus deinem Leben auszuchecken, deswegen machst du es ja, und zwar völlig egal, ob du dein Trinken »Genuss« oder »Sucht« nennst. Während du trinkend all dein spätkapitalistisches Unwohlsein easy peasy im Rosé-Dunst auflöst, kriegst du nüchtern die volle Breitseite Realität ab.

Du bist nonstop konfrontiert mit dem, was du wirklich willst, was du wirklich fühlst, was dir wirklich wichtig ist. Du kannst nicht mehr wegschauen, wenn es unbequem wird. Du kannst nicht mehr die Dinge verdrängen, die irgendwann mal überhaupt erst die Motivation für dein Trinken waren. Du musst jetzt hingucken. Und für dich aufstehen.

Es reicht nicht mehr, dir zweimal die Woche einen reinzustellen, um die harten Kanten deines Lebens aufzuweichen. Ist der Status Quo nicht gut genug, zwingt dich die Abstinenz zu einem radikalen und dauerhaften Umbau der Wirklichkeit zu deinen eigenen Bedingungen. Kurz gesagt: Bist du nüchtern, musst du aktiv werden.

Wenn man einmal den chaotischen Wachstumsschub einer frühen Nüchternheit erlebt hat, überrascht es einen überhaupt nicht mehr, wie viele Nüchterne mit dem Abschied vom routinierten Trinken auch andere Aspekte ihres Lebens hinter sich lassen. Sich von miesen Jobs und unpassenden Beziehungen trennen. Unternehmen gründen. In die Politik gehen. Denn machst du einmal die Erfahrung, das eigene Leben so fundamental ändern zu können, siehst du nicht mehr ein, warum das mit dem Rest der Welt nicht genauso möglich sein sollte.

Eh du dich versiehst, hast du kurzen Prozess gemacht mit allem, was dir schon lang nicht mehr gepasst hat. Und dir etwas gebaut, das du mit keinem Geld der Welt kaufen kannst: Ein Leben, dem du nicht entkommen willst.

Mark