🖤️ KATHRIN KUHN 🖤️ MIA GATOW 

Mark

Rausch und Klarheit


Goldmann, 2024

Memoir

Mia ist die jüngste Tochter in einer langen Dynastie von Trinkenden. Auch sie selbst liebt Rotwein, aber so schlimm wie bei ihrer verrückten Oma und ihrem rätselhaften Vater, die sich mit dem Trinken umgebracht haben, ist es bei ihr noch lange nicht, denkt sie. Sie ist eben ein Partygirl, eine Rebellin, eine Künstlerseele.
Bei der Arbeit als Barkeeperin im Berliner Nachtleben lernt sie, zu trinken, von einem älteren Mann lernt sie Sex und Drama. Als es Zeit ist erwachsen zu werden, befreit sie sich von der toxischen Beziehung, dem Nachtleben und dem Liebesrausch. Das Trinken aber bleibt. Mit Anfang Dreißig hat sich ihr Leben entschleunigt und scheint in die richtige Richtung zu gehen. Trotzdem hängt eine dunkle Wolke über ihr und sie spürt, dass das mit dem Alkohol zu tun hat. Nach dem tausendsten Kater findet sie sich bei den Anonymen Alkoholikern wieder und sagt: »Hi, ich bin Mia - ich bin Alkoholikerin.«

Mias Geschichte handelt von einer Großstädterin, die sich in ihrem eigenen Gefängnis einsperrt. Die Autorin verwebt ihre eigene Abhängigkeitsgeschichte mit einer gesellschaftlichen Analyse des Trinkens. Am Ende steht die radikale These: Nüchtern werden ist ein rebellischer Akt.

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Mark

Besser Allein



Essay

Cosmopolitan


Über die Freuden eines ungebundenen Lebens



Mark

Blut, Schweiß & Tränen


Essay

Cosmopolitan


Wie die Ups and Downs des weiblichen Zyklus unsere Leistungsfähigkeit beeinflussen können, wie clevere Unternehmen den Zyklus ihrer Mitarbeiter:innen hacken und warum all das auch politisch ist. 



Mark

55

Essay

Playboy


10 Dinge, die ich über Sex gelernt habe.
In der Ausgabe 06/22 ︎︎︎

»Nie wieder tu ich mir das an!«, sage ich nach meiner letzten Trennung zu meinem Freund Mat, »Ich bin fertig mit Romantik. Dieser Shit zerstört meine Seele.« Mat nickt mitfühlend. Ihm wurde auch schon das Herz gebrochen.

Doch noch bevor der nächste Frühling dämmert, vermisse ich den Sex. »Super, das ist ein Zeichen dafür, dass du wieder zum Leben erwachst«, sagt meine Freundin Sarah. Nun muss ich doch wieder da raus und auf Dates. Das ist ja ohnehin eine gruselige Aussicht, aber noch schlimmer ist es, weil ich inzwischen nüchtern bin und mir niemanden mehr schön trinken kann. Ich fühle mich wie ein Teenager. Als hätte ich rein gar nichts gelernt in den letzten anderthalb Jahrzehnten. Mat findet, das ist ein Fall von Imposter Syndrom. »Du hast doch tonnenweise Erfahrung!« sagt er, »sei ehrlich – wie viele stehen auf deiner Liste?« Es sind ungefähr 55, gebe ich zu, kann sein, dass ich ein paar wegen Cocktails oder aus Scham vergessen habe. »Na also«, sagt Mat. »Du willst mir doch nicht erzählen, du hättest aus diesen 55 überhaupt nichts gelernt?«

Da war etwas dran. Manchmal denke ich sogar, in manchen Hinsichten war ich vor 15 Jahren schlauer. Eine meiner wichtigsten Lektionen habe ich sogar schon mit dem ersten Typen gelernt.

Sex ohne Geschichte ist wie Brot ohne Butter


Der Erste war ein Punk mit einem ultramarinblauen Iro, einem Adler Tattoo auf der Brust und einer hinreißenden Madonna-Zahnlücke. Ich lerne ihn in einem Grufticlub kennen und schlich mich schon am nächsten Abend heimlich zu ihm nach Hause in einen Plattenbau am Stadtrand, um endlich meine Jungfräulichkeit zu verlieren. Er war 30 und entsetzt zu hören, dass ich erst 15 war. »Das ist doch bestimmt nicht legal«, sagte er. Damals gab es glücklicherweise noch keine Smartphones, mit denen wir das hätten googeln können. Ich lachte ihn aus, sagte ihm, für jemanden, der so gefährlich aussehe, sei er ein ganz schöner Schisser, und zog mein T-Shirt aus.

Sex war seltsam, aber interessant. Es fühlte sich an, wie ein hartes Stück Holz in mir zu haben, was störend wäre, wenn es nicht gleichzeitig mega angenehm wäre. Auch überraschte mich, dass sich 90 Kilo Gewicht auf mir wahnsinnig sexy anfühlten. Damals glaubte man noch an das Jungfernhäutchen, und weil nichts weh tat, dachte ich darüber nach, wann ich es mir wohl kaputt gemacht hatte. Und darüber, wie ich meinen Freundinnen von dem Sex würde erzählen können. Und darüber, ob meine Mutter herausfinden würde, dass ich nicht bei Jenny übernachtete. Von dem eigentlichen Sex bekam ich so wenig mit. Aber um den ging es schließlich auch nicht. Als der Punk schlief, schlich ich ins Badezimmer und starrte mich im Spiegel an. Ich sah genauso aus wie vorher. Sex war scheinbar nicht die große Sache, als die sie verkauft wird. Warum ich diesen Denkfehler machte, wurde mir erst Jahre später klar: Random Sex kann man mit jedem haben. Guter Sex braucht eine gute Geschichte.

Verlass deinen Sugar Daddy


Es gibt die Phase im Leben einer jeden Frau, da ist sie bereit für einen älteren Mann, der ihr was über Sex und das Leben beibringt. Der Deal geht so: Er bekommt ihre Jugend, ihren Optimismus, ihre Lust, morgens aufzustehen, ihre ehrliche Bewunderung dafür, dass er ganz normale Erwachsenensachen macht. Sie bekommt im Gegenzug seine sexuelle Erfahrung und den Egoboost, für einen erwachsenen Mann interessant zu sein – die Sorte Mensch, die am meisten Macht in der Welt hat. Meinen Sugar Daddy traf ich, als ich zwanzig war. Er war Anfang vierzig und sagte mir bei unserer zweiten Begegnung vollkommen ironiefrei: »Ich werde dich zu einer Frau machen.« Er versprach nicht zu viel. Er lehrte mich den Unterschied zwischen okayem Sex als nettem Zeitvertreib und der Sorte Sex, für den man bereit ist, sein ganzes restliches Leben hinzuschmeißen.

Abgesehen davon hatte er allerdings fast nur Probleme. Er trank zu viel und nahm zu viel Kokain, er behandelte seine Freunde schlecht und zog seine Businesspartner ab. 

Ich hätte ihn sehr viel früher verlassen sollen, denn im Rückblick betrachtet war das, was er über Sex wusste, kein exklusives Geheimwissen. Beim Sex und in der Kunst gilt: Du kannst tun was du willst, solange du es mit ausreichend Zuversicht und Selbstvertrauen tust. Das ist es, was dein alter Lover weiß, und was du selbst hoffentlich schnell lernst. Und sowie du es gelernt hast: verlass den alten Sack. Lass dich bewundern von Leuten, die auf Augenhöhe sind. 

Es ist nicht alles Gold, was glänzt


Als ich schon eine Weile aus Langeweile den Exfreund meiner Freundin Jo datete, die ihn mir nahegelegt hatte, weil er einen sehr großen Penis hatte, sah ich auf einer Party das erste Mal dessen Bruder Frank. Als Frank den Raum betrat, hielt alles den Atem an. Er war der schönste Mann, den ich je außerhalb des Kinos gesehen hatte.

Ich schmiss mich sofort an ihn ran und brachte ihn dazu, mich für die nächste Woche zu sich nach Hause zu Spaghetti mit Tomatensauce einzuladen. Das ganze Dinner über kämpfte ich gegen den Drang, ihn wie eine Besessene anzustarren.  

Sein Repertoire beim Sex war jedoch enttäuschend. Er hatte offenbar die meisten seiner Moves aus Pornos – die denkbar schlechteste Informationsquelle, falls man anstrebt, eine Frau zu befriedigen. Er gehörte zu den unglückseligen Männern, die glauben, diese ruppigen Bewegungen, die an eine Nähmaschine erinnern, seien gutes Fingern und während er sich über mich senkte, achtete er mehr auf seinen Bizeps als auf mich. Mitten in der Nacht klingelte es Sturm an seiner Haustür und ich hörte ihn in die Sprechanlage zischen: »Maren, ich kann jetzt nicht, ich bin nicht allein!« Da verstand ich: Dieser Mann hatte genug damit zu tun, Armeen von Frauen daran zu hindern, seine Tür einzutreten. Er würde nie ein guter Liebhaber werden. Er hatte nicht den geringsten Anlass dazu.

Die Liebe deines Lebens ist nicht der Sex deines Lebens


Irgendwo auf der Welt gibt es einen Menschen, der erschaffen wurde, um mit dir Sex zu haben. Wenn ihr das Glück habt, einander zu finden, dann ist es so, als ob zwei Fremde, die sich nie zuvor begegnet sind, sich in feinster Garderobe in einem golden schimmernden Ballsaal treffen und tanzen, als hätten sie jahrelang dafür geprobt. Ihr werdet sein wie Wasser, das in Wasser fließt, eine makellose Kreation, ein Kunstwerk.

Der Haken: Die Chance, dass dieser Mensch in irgendeiner anderen Hinsicht zu dir passt, tendiert gegen Null. Also seid nicht gierig. Genießt den perfekten Sex. Versucht nicht, ihn festzuhalten.



Offene Beziehungen sind nichts für Anfänger


Den Russen lernte ich kennen, als ich gerade keine Lust auf Monogamie hatte. Was sich gut traf, denn er war verheiratet. Wir hatten innerhalb der ersten zwanzig Minuten unserer Bekanntschaft Sex miteinander und danach noch sehr oft, und jedes Mal, wenn es passierte, gingen rechts und links Sachen in Flammen auf, Kleidung, Möbel und Essgeschirr wurde zerstört und ich glühte noch tagelang nach. Wir waren besessen voneinander. Da wir beide kein Interesse daran hatten, »zusammen« zu sein, beschlossen wir, eine offene Beziehung zu haben. Wir glaubten, das würde alles einfacher machen. Keine Monogamie, keine Ansprüche, keine Erwartungen, kein Stress. Spoiler: Es ging nicht gut aus. Du lernst ja auch nicht mit vier Bällen jonglieren, bevor du es mit zweien kannst (Bad Pun intended).

Ich weiß heute: Offene Beziehungen sind nur dann einfach, wenn man ein gefühlloses, rücksichtsloses Arschloch ist. Nette Menschen sollten nur dann offene Beziehungen haben, wenn sie beziehungstechnisch richtige Profis sind. Denn es wird verdammt anstrengend. Du bist am besten gut therapiert, ausgeschlafen und durchtrainiert und bekommst jede Nacht acht Stunden Schlaf. Du muss Zeit und Energie investieren. Du musst dich selbst und den anderen wirklich kennenlernen. Du musst furchtlos sein. Du musst deine Kindheitsmuster kennen und Emotionsmanagement beherrschen. Du musst bereit sein, extrem unangenehme Gefühle auszuhalten. Du musst allein sein können. Du musst ein wirklicher Erwachsener sein. Andernfalls wirst du dich schneller in Eifersucht und Machtkämpfen aufreiben, als du »Blaubeerkuchen« sagen kannst.

Das Rezept für wirklich gutes Lecken


Als ich noch Barkeeperin war unterhielt ich mich mal mit einer Frau am Tresen über Oralsex. Sie klagte darüber, dass 99 Prozent der Männer darin Nieten seien. »Ich habe einen, der ganz fantastisch leckt«, prahlte ich. Ich datete gerade einen italienischen Maler, mit dem ich nicht viel sprach. »Wirklich?«, fragte die Frau interessiert. »Was ist sein Geheimnis?« Mir wurde klar: Ich hatte keine Ahnung. Während der Maler es mir mit dem Mund besorgte, war ich offensichtlich so weggetreten, dass ich hinterher nicht mehr sagen konnte, was genau geschehen war. Also nahm ich mir vor, beim nächsten Mal mitzudenken. Als der Maler in der Nacht zwischen meinen Beinen war, notierte ich mental: Er leckt zuerst sehr ausgiebig die Innenseiten meiner Schenkel und umkreist die empfindlichsten Stellen so lange, bis mein Körper zittert und bettelt. Erst dann schiebt er zwei Finger in mich und beginnt langsam, meine Klitoris zu lecken. Er bleibt stoisch im gleichen Rhythmus, alles ein bisschen wie in Zeitlupe, »todlangweilig eigentlich« ist das letzte, was ich denke, bevor der erste Orgasmus mir alle Lichter ausknipst.

und btw: Wenn er dich nicht leckt, kann er dich nicht leiden.


Eigentlich lief es gut mit Diego. Wir knutschten im Getränkelager der Bar in der wir arbeiteten, teilten unsere Kaugummis und gingen regelmäßig zusammen nach Hause. Doch eines Morgens fiel mir auf, dass er mich noch nie geleckt hatte. Ich fragte ihn danach. Er gab mir die überraschende Antwort, dass er prinzipiell keine Frauen lecke. »Das ist einfach nicht mein Ding«, sagte er.

Männer, die nicht lecken; keine Ahnung, was mit euch nicht stimmt. Ich vermute, ihr könnt Frauen einfach nicht leiden. Folgendes gilt immer, und zwar für alle: Wenn jemand irgendeinen Teil eures Körpers ablehnt, dann ist das eine komplette Ablehnung. Es gibt keine partielle Akzeptanz. Sex findet immer mit dem ganzen Menschen statt.

Guter Küsser ≠ Guter Liebhaber


Mit Francesco rumzuknutschen war himmlisch. Ich ging darum davon aus, dass er ein guter Liebhaber sein musste. Wie naiv ich doch war. Als wir endlich in der Kiste landeten, berührte er mich wie ein kaputtes Elektrogerät, zu dem er die Bedienungsanleitung verloren hatte. Sein ganzer Körper signalisierte, dass er alleine trainieren dem Sex vorziehen würde. Alle seine Moves wirkten mechanisch und wenn irgendwas nicht sofort funktionierte, änderte er die Stellung (was selten hilft). Schließlich versuchte er halbherzig ein bisschen Analsex, und als ich genervt den Kopf schüttelte, ließ er sich kommentarlos flach auf das Bett fallen und schlief schneller ein, als ich jemals einen Mann hatte einschlafen sehen. Ich machte ein Foto von ihm für meine Freundinnen, schmierte mir in der Küche ein Käsebrot und ging dann nach Hause. Das Küssen behielt ich trotzdem in guter Erinnerung.

Nüchterner Sex ist the real deal


Meine Jahre als Cool Girl hatten ihren Tribut gefordert: Mit 32 hatte ich mir eine mittelgroße Alkoholabhängigkeit eingehandelt und da ich mir meinen Teint nicht ruinieren wollte, hörte ich auf zu trinken.
Der erste, mit dem ich nüchternen Sex hatte, war Luca, ein wunderschöner Latino mit melancholischen Augen, den ich in meinem AA Meeting kennengelernt hatte. Als er mich das erste Mal küsste, auf einer abendlichen Straße voller Menschen, fühlte es sich an, als würden wir zusammen von einer Klippe springen. Und als wir zusammen nach Hause gingen, starb ich fast vor Aufregung. Ich und ein heißer Typ, den ich kaum kannte, beide vollkommen klar im Kopf, alles hell und gut ausgeleuchtet, nicht mal der mildeste Buzz, um die harten Kanten meiner Realität aufzuweichen.
Ich machte das, was ich immer mache, wenn ich nervös bin; ich übernahm die Kontrolle. Als ich seinen Schwanz im Mund hatte, hielt ich den Blickkontakt. Lange. Was easy ist, wenn du sowieso unscharf siehst. Aber nüchtern ist es eine Superpower. So lernte ich, besser spät als nie: Es gibt nichts Besseres als nüchternen Sex. Der Punkt am Sex ist nicht Virtuosität, sondern Intimität. Was mich zu meiner letzten und härtesten Lektion bringt.

Der beste Sex ist Vanilla


Als erbarmungsloses Partygirl mit einer Aversion gegen Disney-Romantik fällt es mir immer noch schwer, es zuzugeben. Doch am Ende des Tages gewinnt Blümchensex. Sorry, aber die Missionarstellung ist so zeitlos wie Bluejeans. Und das waghalsigste und beste, was man im Bett machen kann, ist jemandem tief in die Augen schauen, in den man verliebt ist.

Mark

Nüchternheit ist Rebellion




Essay
Tagesspiegel

lesen im Tagesspiegel ︎︎︎

Ein paar Mal im Jahr veröffentlicht eine große Zeitung einen Text über Alkoholkonsum, der von einer Trinkpause handelt. Es ist immer der gleiche Text, er geht immer ungefähr so:

Ein:e Autor:in trinkt für ein paar Wochen oder Monate keinen Alkohol, findet das interessant, komisch oder sogar ein bisschen gut – immer aus den gleichen langweiligen, vorhersehbaren Gründen: besserer Schlaf, bessere Haut, bessere Selbstkontrolle – aber unterm Strich ist kein Alkohol eben auch keine Lösung (höhö). Und außerdem ist es ohne Drink so schwer, sich zu entspannen.

Und weil die unvermeidliche Rückkehr zum routinierten Drogenkonsum zwangsläufig eine Art inneren Rechtfertigungszwang auslöst und weil modernen, akademischen Kulturmenschen das Argument der Konservativen, Trinken sei Tradition, nicht zur Verfügung steht, muss ein anderes, stylishes Framing her: »Trinken ist Rebellion.«

Gegen die Leistungsgesellschaft. Gegen neoliberale Selbstoptimierte. Gegen das kapitalistische Hamsterrad. Gegen die Diktatur der Vernunft. Ja, sogar gegen Elon Musk himself! Wer Christian Lindner eins auswischen will, trinkt Bier. Linker Aktivismus quasi.

Die VICE fasst es so zusammen: »Wer säuft, kann nicht arbeiten. Wer säuft, kann sich nicht selbstoptimieren. Wer säuft, tut einfach nur das, was ihm Spaß macht, was ihn Mensch sein lässt. Ohne Rücksicht auf den Kapitalismus und dessen Zwänge.«

Gero von Randow von der ZEIT ist eher Team Tweed Sakko findet die Abstinenz »tragisch«. Allein der Wein und dessen subversive Kraft vermöge ein menschenfeindliches System auszuhebeln, schreibt er, weil der Suff »den Menschen immer wieder am Käfig der Vernunft rütteln« lasse. Sein Kollege Jakob Pontius schrieb während des Corona-Lockdowns sogar, der Drink sei unsere »letzte Freiheit« und warb eindringlich für etwas geheimnisvolles, das er den »kontrollierten Kontrollverlust« nannte.

Und auch Silvia Silko beim Tagesspiegel glaubt an das »anarchische Potenzial des Weißweins«. Sie schreibt, trinken sei »der gereckte Mittelfinger an die Elon Musks und Christian Lindners dieser Welt!«

Sorry, aber Trinken ist definitiv keine Rebellion


Auch ich habe zu meinen Trinkzeiten dieses Narrativ gerne für mich in Anspruch genommen. Ich habe mir zwar nicht eingeredet, dass Christian Lindner sauer ist, wenn ich Bier trinke. Aber ich war wild, ich war punk, ich war super feminist und super promisk und super antikapitalist. Ich fand die Gleichung Trinken = Rebellion trotz offensichtlicher Schwächen überzeugend, denn sie verlieh meiner Liebe zum Drink einen romantischen Glanz.

Wäre ich an einer ehrlichen Auseinandersetzung mit meinem Trinken interessiert gewesen, hätte ich diese fadenscheinige Geschichte sogar noch nach fünf Tequila Shots problemlos dekonstruieren können.

Rebellion wird definiert als der offene Aufstand einer kleineren Gruppe gegen ein größeres, etabliertes Machtsystem. Und man muss wirklich bloß mal einen halben Abend lang das Haus verlassen, um zu sehen, wie das Mehrheitsverhältnis in puncto Alkohol hierzulande aussieht.

Alkohol ist der Inbegriff von Mainstream. Es gibt so gut wie keinen Anlass, bei dem wir nicht zum Trinken aufgefordert werden. Auf jedem denkbaren Event fließt Alkohol. Bei der Kommunion, auf dem Abiball, im Büro, beim Sport und im SPA: In Deutschland gibt es kaum eine soziale Gruppe, Subkultur oder Gesellschaftsschicht, in der Alkoholkonsum eine subversive Kraft hätte oder auch nur auffallen würde. Aber finde mal jemanden, der nicht trinkt.

Die weite Verbreitung und die hohe gesellschaftliche Akzeptanz haben einen hoch diversifizierten Markt hervorgebracht: Egal, woher du kommst, wen du wählst, was du anhast, es gibt garantiert den passenden Drink für dich. Ob du zur Eppendorfer Grauburgunder-Schickeria gehörst oder zum Team Sterni vorm Späti, ob du im Schumann’s einen 23 Euro Manhattan trinkst, Champagner auf Ibiza oder ein Maß Bier in München Schwabing – die Industrie hat garantiert das richtige Angebot für dich. Deine Rebellion hält einen ganzen Wirtschaftszweig am Leben. 

Diesen Lifestyle lässt Deutschland sich einiges kosten, auch finanziell: 57 Milliarden Euro betrug 2022 die Summe der alkoholbedingten Schäden durch Krankheit, Unfälle und Frühberentung. Alkohol ist unterdessen so billig, dass die lächerlichen zwei Milliarden, die durch Steuereinnahmen wieder reinkommen, nicht mal annähernd die Kosten der Kollateralschäden decken. Wer das bezahlt, sind nicht die Konzerne, sondern das Gesundheitssystem. Saufen ist also weniger Rebellion gegen die Leistungsgesellschaft als vielmehr gegen die Solidargemeinschaft.

Man kann die These Alkohol = Rebellion also ohne viel Aufwand entkräften. Aber das Enervierende an diesen Texten ist gar nicht so sehr die Fadenscheinigkeit der Argumente oder die tausendste Reproduktion einer kollektiven Alkoholverharmlosung. 

Das wirklich Ärgerliche ist, dass diese Texte nie von Leuten geschrieben werden, die wirklich etwas von Nüchternheit verstehen. Sondern immer nur von trinkenden Normalos, die sich nicht trauen, aufzuhören, weil sie keine Idee haben, wie sie sich ohne Sprit entspannen sollen. Diese Leute kriegen ohne Ende Air Time, um ihre spaßbefreiten Trinkpausen zu schildern, die sie nur machen, um sich zu versichern, dass ihr Konsum unter Kontrolle ist (alter Suchti-Trick!) und so ihr Trinken vor sich selbst zu legitimieren.

Und am Ende stehen dann immer diese Texte, die keinerlei echte Einsicht bieten, sondern bloß bestätigen, was man ohnehin schon fürchtet – nämlich, dass ein Leben ohne Alkohol kein lebenswertes Leben ist. Das ist frustrierend, denn diese Leute haben von echter Nüchternheit leider null Ahnung.

Also schauen wir uns doch zur Abwechslung mal an, was im Camp der Abstinenzler:innen wirklich los ist, shall we?

Was Nüchternheit wirklich bedeutet


Ich gehöre ja nun schon seit fast 6 Jahren zu ihnen. Zu den bis in die Haarspitzen durchoptimierten, neoliberalen Leistungsmaschinen. Ich bin ein »Sklave des ewigen Fortschritts«, wie Silvia Silko sie nennt. (Ich habe fairerweise nicht aus Lifestyle-Gründen aufgehört, sondern weil ich eine richtige Alkibraut war, aber egal, mein Stoff war ja der gleiche wie eurer.)

Erstmal good News an alle die sich vor der totalen Selbstoptimierung fürchten: Klar im Kopf sein steigert nicht zwingend die Produktivität, die Vernunft oder das Einkommen. Ohne Drink kann man immer noch mit vollen Händen seine Zeit zum Fenster rauswerfen und sehr, sehr unvernünftig sein. Man kann immer noch ungesunden, gefährlichen Hobbies nachgehen (ohne Helm Fahrrad fahren, wochenlang nur Junkfood essen, konsequent nicht zum Yoga gehen, fragwürdige Leute knallen, peinliche Textnachrichten schicken, Kommentarspalten lesen) Man kann immer noch richtig miese Entscheidungen treffen. Stolz kann ich sagen: Ich habe all das auch ohne Gin geschafft.

Es stimmt schon, dass man nüchtern mehr Zeit und Energie zur Verfügung hat – potenziell also deutlich produktiver sein könnte – würde man bloß nicht andauernd von all den nervigen Gefühlen abgelenkt, die man jetzt auf einmal ständig fühlt.

Oh, da ist plötzlich so viel in dir los. Freude, Stress, Wut, Melancholie, Langeweile, Sehnsucht, Zweifel, Ungeduld. Du fühlst dein eigenes Leben, ungefiltert, 24/7. Und das hat Konsequenzen für deine Arbeit.

Ist dein Job eine Zumutung, kannst du ihn dir nicht schön saufen. Hast du einen Boss, der dich triezt, kannst du nicht beleidigt trotztrinken. Empfindest du deine Tätigkeit als sinnentleert, kannst du dich nicht auf das intellektuelle Niveau deiner Team Meetings runter tütern. Sind deine Kolleginnen allesamt fiese Bitches, kannst du dich nicht mit Rosé vollknallen, um nicht enden wollende Team Events mit diesen Ziegen durchzustehen.

Trinken bietet die Möglichkeit, schnell und einfach aus deinem Leben auszuchecken, deswegen machst du es ja, und zwar völlig egal, ob du dein Trinken »Genuss« oder »Sucht« nennst. Während du trinkend all dein spätkapitalistisches Unwohlsein easy peasy im Rosé-Dunst auflöst, kriegst du nüchtern die volle Breitseite Realität ab.

Du bist nonstop konfrontiert mit dem, was du wirklich willst, was du wirklich fühlst, was dir wirklich wichtig ist. Du kannst nicht mehr wegschauen, wenn es unbequem wird. Du kannst nicht mehr die Dinge verdrängen, die irgendwann mal überhaupt erst die Motivation für dein Trinken waren. Du musst jetzt hingucken. Und für dich aufstehen.

Es reicht nicht mehr, dir zweimal die Woche einen reinzustellen, um die harten Kanten deines Lebens aufzuweichen. Ist der Status Quo nicht gut genug, zwingt dich die Abstinenz zu einem radikalen und dauerhaften Umbau der Wirklichkeit zu deinen eigenen Bedingungen. Kurz gesagt: Bist du nüchtern, musst du aktiv werden.

Wenn man einmal den chaotischen Wachstumsschub einer frühen Nüchternheit erlebt hat, überrascht es einen überhaupt nicht mehr, wie viele Nüchterne mit dem Abschied vom routinierten Trinken auch andere Aspekte ihres Lebens hinter sich lassen. Sich von miesen Jobs und unpassenden Beziehungen trennen. Unternehmen gründen. In die Politik gehen. Denn machst du einmal die Erfahrung, das eigene Leben so fundamental ändern zu können, siehst du nicht mehr ein, warum das mit dem Rest der Welt nicht genauso möglich sein sollte.

Eh du dich versiehst, hast du kurzen Prozess gemacht mit allem, was dir schon lang nicht mehr gepasst hat. Und dir etwas gebaut, das du mit keinem Geld der Welt kaufen kannst: Ein Leben, dem du nicht entkommen willst.

Mark